Streitbeilegung im internationalen Steuerrecht – Existierende Mechanismen und Perspektiven für Länder des Globalen Südens

Dieser Beitrag ist im Infobrief der Plattform Transformative Finanzpolitik des Forum Umwelt & Entwicklung erschienen

Wie überall im Recht wird auch im internationalen Steuerrecht gestritten. Ziel dieses Beitrags ist es, zu beleuchten, wie Steuerpflichtige und Staaten Konflikte über die Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen austragen können. Ein Fokus soll darauf liegen, wie die Situation von Ländern des Globalen Südens, sog. Entwicklungsländern, ist, was für ihre Belange berücksichtigt werden sollte und welche Perspektiven sich für Entwicklungsländer bieten.

Gegenstand der Streitigkeiten im internationalen Steuerrecht sind Doppelbesteuerungsabkommen (DBA). DBA sind meist bilaterale völkerrechtliche Verträge, in denen Staaten miteinander vereinbaren, in welchen Szenarien welcher Staat seine nationalen Besteuerungsbefugnisse ausübt und in welchen Szenarien andere Staaten dafür von der Ausübung ihrer Besteuerungsbefugnisse absehen. Der größte Teil von DBA sind solche über die Besteuerung von Einkommen und Vermögen. Für diese Abkommen gibt es zwei Musterabkommen mit besonderer Strahlkraft, an denen sich die meisten Staaten beim Abschluss ihrer DBA orientieren: Zum einen ein Musterabkommen der OECD (OECD-MA)1 und ein Musterabkommen der Vereinten Nationen (UN-MA)2. Am OECD-MA orientieren sich vor allem Länder des Globalen Nordens, sog. Industrienationen – so ist der Großteil der deutschen DBA an das OECD-MA angelehnt – während das UN-MA einen Fokus auf die Belange von Entwicklungsländern legt.

Welche Möglichkeiten zur Streitbeilegung gibt es?

Wenn Steuerpflichtige der Auffassung sind, dass ihnen gegenüber eine steuerliche Maßnahme droht oder bereits erlassen wurde, die abkommenswidrig ist, haben sie mehrere Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Zunächst können sie in dem Staat, dessen Maßnahme sie stört, den nationalen Rechtsweg beschreiten. DBA sind in den meisten Staaten wie gewöhnliche Gesetze anzuwenden und auszulegen. Steuerpflichtige können sich auf sie berufen, in Deutschland nachdem sie durch ein Bundesgesetz in nationales Recht transformiert worden sind (Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes). Allerdings regeln DBA Rechte und Pflichten von mindestens zwei Staaten. Deshalb ist es erstrebenswert, dass die Vertragsstaaten zu einer übereinkommenden Auslegung und Anwendung des Abkommens gelangen. Nur so kann eine Doppelbesteuerung oder eine doppelte Nichtbesteuerung effektiv vermieden werden. Um eine entsprechende Verständigung zu ermöglichen, sehen DBA nach dem OECD- oder UN-Muster selbst einen Streitbeilegungsmechanismus vor. Daneben gibt es noch weitere Mechanismen – insbesondere in der EU: Für die Gewinnabgrenzung zwischen verbundenen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und ihren Betriebsstätten gibt es bereits seit 1990 einen völkerrechtlichen Vertrag, die sogenannte EU-Schiedskonvention, der einen Streitbeilegungsmechanismus in diesen Fällen vorsieht. Darüber hinaus hat die EU im Jahr 2017 eine Streitbeilegungsrichtlinie erlassen, die für Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung von DBA zwischen EU-Mitgliedstaaten einen Mechanismus etabliert.

Streitbeilegungsmechanismus im DBA

DBA nach dem UN- oder OECD-Muster sehen jeweils in Art. 25 Abs. 1 vor, dass Steuerpflichtige jedenfalls in ihrem Ansässigkeitsstaat (nach dem OECD-Muster seit 2017 in jedem der beteiligten Staaten) einen Antrag stellen können, wenn sie der Auffassung sind, dass sie abkommenswidrig besteuert wurden oder eine solche Besteuerung droht. Auf den Antrag hin soll der jeweilige Staat den Antrag auf seine Zulässigkeit prüfen und untersuchen, ob er dem Antrag bereits einseitig abhelfen kann. Ist der Antrag zulässig und keine einseitige Abhilfe möglich, hat der Staat – oder genauer: die von dem Staat als solche benannte zuständige Behörde, in Deutschland das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) – ein Verständigungsverfahren einzuleiten und sich zu bemühen, den Fall gemeinsam mit der zuständigen Behörde des anderen Staates zu lösen. In sehr vielen weltweit abgeschlossenen DBA gibt es keinen Mechanismus, der über diese Form des Verständigungsverfahrens hinausgeht. Damit haben die Steuerpflichtigen zwar einen Anspruch darauf, dass – sofern sie einen zulässigen Antrag stellen – ein Verständigungsverfahren eingeleitet wird. Sie haben allerdings keinen Anspruch darauf, dass die Staaten in diesem Verständigungsverfahren auch zu einer Lösung gelangen.

Um zu garantieren, dass es zu einem Ergebnis kommt, findet die Ergänzung des Verständigungsverfahrens um eine Schiedsphase zunehmende Verbreitung. Die EU-Schiedskonvention sieht bereits seit dem Jahr 1990 eine Schiedsphase vor. In das OECD-MA wurde im Jahr 2008 eine Schiedsklausel (Art. 25 Abs. 5) aufgenommen. Das UN-MA sieht seit dem Jahr 2011 eine Schiedsklausel vor – allerdings nur als Option (Art. 25 Abs. 5 in der Alternative B). Nach dem UN-MA kann eine der beteiligten Behörden die Schiedsphase einleiten, wenn in einem von Steuerpflichtigen eingeleiteten Verständigungsverfahren innerhalb von drei Jahren keine Einigung erzielt werden konnte. Nach dem OECD-MA ist es hingegen an den Steuerpflichtigen, ein Schiedsverfahren einzuleiten, wenn nach zwei Jahren keine Verständigung zustande gekommen ist.

Detaillierte Verfahrensregelungen für die Schiedsphase sieht kein Musterabkommen vor, diese bleiben gesonderten Vereinbarungen der zuständigen Behörden vorbehalten. Auch für diese gesonderten Vereinbarung halten die Musterabkommen in den begleitenden Kommentaren jedoch Vorlagen bereit. Zunächst werden nach diesen Vorlagen die Schiedspersonen benannt. Dafür benennt typischerweise jeder Staat eine Schiedsperson und diese beiden Schiedspersonen einigen sich auf eine weitere, die den Vorsitz über das Schiedsgremium führt.

Für das Vorgehen dieses Schiedsgremiums sind zwei unterschiedliche Methoden verbreitet, die sich durch die Art der Entscheidungsfindung unterscheiden. Nach der sogenannten independent opinion-Methode fällt das Schiedsgremium seine Entscheidung so, wie es üblicherweise auch Gerichte tun: die Beteiligten (insbesondere die Staaten) tragen in Positionspapieren die aus ihrer Sicht richtige Auslegung des Abkommens vor. Daraufhin wägt das Schiedsgremium die vorgetragenen Argumente gegeneinander ab und verkündet einen Schiedsspruch, der auch eine Kompromisslösung zwischen den vorgetragenen Positionen sein kann. Nach der sogenannten last best offer-Methode (auch bekannt als baseball arbitration, weil auf diese Weise Gehälter im US-Major League Baseball verhandelt werden) sind keine Kompromisslösungen denkbar. Nach dieser Methode bringen die beteiligten Staaten jeweils nur einen Lösungsvorschlag ein – Steuerpflichtige dürfen regelmäßig keinen Vorschlag machen – und das Schiedsgremium muss sich für einen der beiden Vorschläge entscheiden, meist ohne Begründung. Umgesetzt wird die Schiedslösung nur, wenn die Steuerpflichtigen dieser zustimmen und auf die Einlegung nationaler Rechtsbehelfe verzichten oder diese zurücknehmen.

Während die independent opinion-Methode in den EU-Mechanismen verankert ist und in den ersten OECD-Vorlagen noch als Standardmethode vorgesehen war, ist in den letzten Jahren die last best offer-Methode auf dem Vormarsch. Seit 2017 ist sie als Standardmethode in der OECD-Vorlage vorgesehen. Die UN-Vorlage ist bereits seit 2011 nach der last best offer-Methode ausgestaltet. Das kann allerdings auch daran liegen, dass OECD-Vorlagen aus dieser Zeit die Anwendung dieser Methode als streamlined process, also als beschleunigte Verfahrensvariante, vorschlugen.

Aus meiner Sicht ist die zunehmende Verbreitung der last best offer-Methode kritisch zu sehen: Ein Argument, das oft für diese Methode vorgebracht wird, ist, dass sie vermeintlich effizienter und zeitsparender sei. Sie soll die beteiligten Staaten dazu anhalten, kurz und pointiert vorzutragen und idealerweise in ihrer Position kompromissbereiter zu sein. Das vermag die Methode allerdings höchstens in sehr einfach gelagerten Fällen zu leisten. Solche Fälle sind im internationalen Steuerrecht selten. Vielmehr gilt es häufig, erst Vorfragen zu klären, und danach in mehrstufigen Prozessen Vorschriften auszulegen. Für diese Fälle sollen im Rahmen der last best offer-Methode jeweils für alle in Betracht kommenden Fragen alternative Lösungen angeboten und damit komplexe Entscheidungsbäume abgebildet werden. Da erscheint es deutlich effizienter, wenn die beteiligten Staaten jeweils in einem Schreiben die aus ihrer Sicht richtige Abkommensauslegung darlegen und begründen. Vor allem aus der Perspektive von Entwicklungsländern ist zudem besonders kritisch zu sehen, dass es für das Verfassen pointierter und überzeugender Positionspapiere einiger Kenntnisse und Erfahrungen bedarf. Diese weisen eher große Industrieländer auf. Insbesondere die USA vereinbaren bereits seit vielen Jahren Verständigungsverfahren nach der last best offer-Methode. Diesen Staaten im last best offer-Verfahren die Stirn zu bieten, dürfte deutlich schwerer sein als im independent opinion-Verfahren, in dem das Schiedsgremium nur die vorgebrachten Argumente würdigt und zu einer eigenen, auch abweichenden, Entscheidung kommen kann.

Wie Entwicklungsländer Schiedsverfahren begegnen

Nach meiner Wahrnehmung versuchen Entwicklungsländer bisher, die Vereinbarung von Schiedsklauseln ganz zu vermeiden. Das fängt damit an, dass die Schiedsklausel im UN-Muster nur als Alternative vorgesehen ist.

Von besonderer Bedeutung sind Streitbeilegung und insbesondere Schiedsverfahren im Kontext der gegenwärtig voranschreitenden Arbeit im Rahmen von G20 und OECD zur Vereinheitlichung der Besteuerung grenzüberschreitend agierender Unternehmen. So hat sich bspw. das im Rahmen des sog. Base Erosion and Profit Shifting-Projekts (zur Erosion der Besteuerungsbasis und der Gewinnverschiebung) bei der OECD entstandene Inclusive Framework on BEPS (ein Gremium zur Begleitung der Projektumsetzung) des Themas angenommen. Allerdings wurde keine Einigung über die Aufnahme einer verpflichtenden Schiedsklausel gefunden, sodass diese in dem die Ergebnisse des Projekts umsetzenden Abkommen, dem sog. Multilateralen Instrument, letztlich nur als Option aufgenommen wurde.

Doch die Luft wird dünner: Auch im Rahmen des aktuellen sog. Zwei-Säulen-Projektes3 ist nach dem letzten veröffentlichten Verhandlungsstand ein Streitbeilegungsmechanismus nach der last best offer-Methode vorgesehen. Von Amount A unter Säule 1 betroffene Unternehmen, deren Übergewinne in Marktstaaten verteilt werden sollen,4 können ihre Gewinnabgrenzungskonflikte einer verbindlichen Lösung zuführen lassen.5 Für Entwicklungsländer ist dabei noch ein sogenannter elective binding dispute resolution panel mechanism vorgesehen, der insbesondere vorsieht, dass die Einleitung der Schiedsphase des gegenseitigen Einvernehmens der zuständigen Behörden bedarf. Unter diese Ausnahmeregelung sollen allerdings nur Staaten fallen, die bisher keine oder nur sehr wenige Verständigungsverfahren hatten. Die Höhe dieser Schwelle wird noch verhandelt, nach dem letzten Stand soll sie bei durchschnittlich 10 Fällen in einem Betrachtungszeitraum von zwei Jahren liegen. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die Zahl der Verständigungsverfahren zunimmt, an denen Entwicklungsländer beteiligt sind.

Vor diesem Hintergrund sollten die Belange von Entwicklungsländern direkt bei der Ausgestaltung von Streitbeilegungsmechanismen mitgedacht werden. Dazu gehört nicht nur die Wahl der Methode. So ist auch daran zu denken, dass die Panelmitglieder ein Verständnis für die Situation aller beteiligter Staaten aufbringen sollten. Außerdem ist aus meiner Sicht der Grundsatz zu hinterfragen, dass – wie in der gängigen Praxis – Schiedsentscheidungen nicht veröffentlicht werden. Damit wird die Chance vertan, dass das internationale Steuerrecht auf der Grundlage von Schiedsentscheidungen weiterentwickelt werden kann und es ist weder der Öffentlichkeit noch anderen Staaten möglich, aus Entscheidungen zu lernen und die Argumente auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Auch ein akademischer Diskurs wird so unterbunden.

Perspektivisch könnte daran gedacht werden, die Streitbeilegung im internationalen Steuerrecht zu institutionalisieren. Geschehen sollte dies auf Ebene der Vereinten Nationen – nur auf dieser Ebene ist die ganze Staatengemeinschaft vertreten.

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1 OECD (2017): Model Tax Convention on Income and on Capital: Condensed Version. Paris. https://doi.org/10.1787/20745419

2 United Nations (2017): Model Double Taxation Convention between Developed and Developing Countries. New York. https://www.un.org/esa/ffd/wp-content/uploads/2018/05/MDT_2017.pdf

3 Kernelemente sind die Verteilung von Besteuerungsrechten auf Übergewinne der umsatzstärksten multinationalen Unternehmen (Säule 1) sowie die Einführung einer globalen Mindestbesteuerung (Säule 2).

4 Das sind nach dem aktuellen Verhandlungsstand solche, die einen Umsatz von mehr als 20 Milliarden Euro erzielt haben und gleichzeitig eine Umsatzrendite von mehr als zehn Prozent aufweisen, vgl. OECD (2022): Progress Report on Amount A of Pillar One. Paris. https://www.oecd.org/tax/beps/progress-report-on-amount-a-of-pillar-one-july-2022.pdf

5 Vgl. OECD (2022): Public Consultation Document: Pillar One – Tax certainty for issues related to Amount A. Paris. https://www.oecd.org/tax/beps/public-consultation-document-pillar-one-amount-a-tax-certainty-issues.pdf

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David Rüll hat von 2017 bis 2021 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München zur Streitbeilegung im internationalen Steuerrecht geforscht. Er ist Mitglied im UN Transfer Pricing Subcommittee und dort insbesondere in einer Gruppe aktiv, die sich mit Streitbeilegung befasst.

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